Berge





Vorland

Stand ich im Vorland, vor mir die Füße der Riesen
größer als meine Gestalt, übermenschliche Gewalt
die meine Augen nicht fassen können, meine Gedanken nicht begreifen
meine Hände sind kalt, die abgestorbenen Finger rühren sich nicht

Ließ meine Blicke wandern, die Flüsse entlang
entgegen der richtigen Richtung: der Strömung entgegen
das Wasser ist kalt: die abgestorbenen Füße meiner Gedanken
wanken im Kiesbett bergan, im immer klareren Wasser

Wenn ich die Quelle erreiche: meine Füße bluten von den eiszersplitterten Steinen
meine Hände, aufgerissen, die nur Teile der Welt festhalten
Schnee treibt vor meinen Augen vorbei: ich sehe nicht, ich sehe weiß
ein Blick nach unten: kein Vorland mehr; nur Schatten von Wolken; nur Schluchten: neblig und leer




Kein Berg

Es ist kein Berg mehr da: sie sind alle bestiegen
worden - sie haben nicht davon erzählen können, weil sie stumm sind
morgen - hier liegt ein kalter Stein und weiß nicht mehr, Steinkind
komm mit mir
ich nehme dich mit an meiner kalten Hand, die einst - wie du - den Schatten fand

Die Sonne geht hinter den nicht vorhandenen Bergen unter
man könnte sagen: Meer, Meer - doch Wasser ist auch keines da
die Luft ist klar - nicht einmal Dunst - alles leer

Dort sind nur die geblieben: die Unbezeichneten
die man nicht einmal Wüsten nennen kann
fades Licht zieht sich pilzfadengleich über den nicht vorhandenen Teich
der gestorbene Atem der Berge zieht das Nichts ins neue Totenreich
hast du die Boten gehört; hast du die Winde gestört: von nichts sprechen sie
als vom einsamsten Kinde - die Wasser brodeln und kotzen
sinnlos über den
niemals vorhandenen Deich




Weg durch die Anden

Auf der Concepcion eines Weges
unterwegs - die Füße der Geknechteten, die keine
Abdrücke im Fels hinterlassen: müde, geschundene Beine
die Geächteten: weine nicht, kleine Senora
der Gott ist mit dir: das heilige Licht: das Kreuz deines Vaters
liegt verkrümmt unter den Kaffeesträuchern wo sie die
Götzen der alten Götter zerräuchern; öffne die Augenkamee

San Valentin steht über alldem und behütet die gütigen Götter
die von über dem Wasser, die von über dem Meer
schwer ist der blutige Tritt der Indio
doch nur auf die Bekehrten wartet das Himmelreich
nicht auf die, die die falschen Götter ehrten

Im Blick der kleinen Senora verschwimmen die Berge
die Augen der Sonne geöffnet, so läuft sie bergan
das Gefühl: in den Klauen des Kondors fliegen die Sterne
Nacht wird es, Nacht, am blauen und schwarzen Himmel
kämmt der Jaguar auf dem Sternenfeld nach ihr
und findet die Seele und reitet fort mit ihr




Sachter Wind

Am Rande einer Schlucht stehen und vom Wind
umschmeichelt in die Tiefe sehen

Du, der du das Luftrauschen in deinen
Ohren fühlst: siehst du den Wind in den Wolken
kalt ist er nicht; etwas ist seltsam

Das Licht, das mit den Wolken redet und langsam verschwindet
ohne das Licht türmen sie sich zu schweren Bergrücken
wer nie einen Ausgang findet vom Aufgang der Felsenbrüder
schon in den Sternen gesucht: doch das Licht ist zu blaß und zu weit
und der Wind trägt dich sacht durch die Zeit

Du, der du in den Wolken die Hände siehst, deren Finger
dir Zeichen machen oder nach dir greifen

Am Stamme der großen Berge reifen die Früchte
wenn der sanfte Wind atmet: sie fallen in deine Hände
du kennst ihre Farben nicht: kennst nicht ihre Worte
und in ihren stummenden Zeichen erkennst du dich selbst




Das Dunkel des Bergwalds

Knarren, überall Knarren, redet der stöhnende Wind
das Leiden der Verkrümmten, die sich ins Leben klammern
Zweige, in sich selbst verdreht und Wurzeln, die Schreiben
ihr vergängliches Wort in den ewigen Fels
die Nacht dreht sich und der Berg erwacht und im Wald
die Füße der schuldlosen Tiere schlagen: man hört die Schüsse
das Grün, das man nicht mehr sieht: ob es jemals gewesen ist?
ein Schrei springt herab, ein Echo gibt eine seufzend verhallende Antwort

Wenn der Bach läuft, zwischen den Bäumen, der Bergbach
der mitreißt: die Nahrung der Leben; der bringt: das klare Leben
der auslöscht: er ißt das Vergessen; der springt: über die Steine in Tiefe hinein, ins Tal

Das vorbeigehende Auge liest all das und versteht nicht
die Falten im Stein und die flehenden Arme
das Bild einer Lebenden Verzweiflung: Wenn der Mund sich öffnet und schließt
Worte quellen hervor: die doch nichts sagen können
bist du ein Baum? der Mund des Waldes öffnet sich und presst sich an die Lippen des andern
er hat die Wörter ausgesaugt: die Kraft ruht allein im Sein

Hohle Glashüllen perlen aus Augenmund haben gesehen haben gesprochen
gebrochen durch einzig Gewalt des dunklen Bergwald
füllen das gestorbene Lachen in Leichenbücher
und andere trinken: nicht klares Leben, nicht Auslöschung: Erinnern
das Schicksal der Berge ist nicht das Schicksal der Augen

Im Rauschen, im Wind, wenn die Tage vergangen sind
und das Dunkel kommt: Das Sehen nicht mehr ist
der, der im Sehen sich selbst vergißt
sich in den Bach versenkt




Berge in einer Landschaft, sinnleer

Am Himmel entlang, die weißen Zähne: Ragen aus flachen Matten heran
unten grün und die Felsen wachsen aus dem Gras hinaus
man kann fast hören, wie sie leben, wie sie wachsen, wenn man ihre
schroffen Gesichter anblickt, regungslos, keine Miene verziehen, kein Ausdruck
nur ein Eindruck: Im Echo der Schlucht bleiben wenige Worte

Keine eingeschriebenen Botschaften, keine Spur von
Vergangenheit: Was war, wird nur von den Zeiten gelöscht
und nichts Lebendes hinterlässt eine Spur auf dem glatten Fels
ab und zu bleibt ein Knochen da; aber nicht lange, schon ist er verschwunden
im essenden Schnee

Den weißen Dunst hören - feuchte Tropfen, wie sonst nur auf Fensterscheiben
sind hier Luft - unmöglich, darauf zu schreiben - der Wind wird unhörbar
das Dasein ist selbstverständlich geworden und sonst ist nichts mehr
was die Welt bedeutet in menschlosen Höhen, in Alleinheit, die Leere ist da

Ein Blick in eine Schlucht, der fällt, ein Rauschen
kein Wort: eine in Wolken ungefähre Landschaft
nahe den Sphären, die so unmöglich sind
das haltlose Gefühl der Angst vor dem Nichts
das Schweigen ist Reden in dieser so anderen Welt




Blauer Bergsee

Blauer Bergsee, Auge, in dem sich der Himmel spiegelt
die Antwort der Sonne liegt tief in deinen kalten Wassern
das Eis ist nicht da: und doch frieren wir
der Stein ist kälter als Eis, das Wasser liegt reglos da
in irritierend irisierendem Blau

Du siehst einen Eindruck der Ruhe, wenn du den Bergsee ansiehst
Du versinkst in ihm: richte deinen Blick auf die dunklen und doch
so klaren Wasser: trinke den Anblick aus

Woher willst du wissen, ob das Wasser kalt ist, wenn du nicht schwimmst?
Woher kennen die Menschen heiße Quellen, woher kommt Wissen? Woher Leben?
Da ist kein Laut. Und doch ist es nicht still.

Wenn du genau hinsehen würdest: Du siehst, wie auf klaren, transparenten Flügeln
leise sirrend die Möglichkeit durch eine unsichtbare Luft gleitet und mit dem Wind tanzt
wenn du ihrer Bewegung folgen würdest: Du siehst, wie sich durch ihren Flügelschlag
ganz leicht die Oberfläche des Sees bewegt, nur ganz leicht
als wäre es nicht wahr




Absturz

Boden bricht unter den Füßen weg: Weit unten ein Aufschlag
noch sind die Hände bereit, das Gewicht des Lebens zu halten
noch ist das Seil fest genug: noch die Haken im Stein

Stein
am Grunde einer Schlucht sind seine Splitter
Mensch
ein zerfurchtes Gesicht blickt verloren zum Himmel

Eiszapfen hängen über dem wehenden Haar
und reflektieren die Sonne

In den Rissen im Stein erkennt man uralte Linien wieder
eine Sprache, die irgendwo ruhte, erweckt die Frühen in uns
in den Rissen im Sein erkennt man uralte Linien wieder
eine Sprache, die irgendwo schlief, wird von den Alten geweckt

Die in der Luft Bögen und Kreise beschreibenden Hände fassen das Seil nicht mehr
der Mensch hat das Fliegen gelernt: ausgelernt: die Arme weit offen
der Schrei und der Glaube daran: Unwahrscheinlichkeit ist nicht das Ende

In der Luft schwimmen:
eines Tages gingen die ersten Fische an Land: dort, wo ihnen schließlich
Flügel wuchsen, kommen auch wir her

Ein Bild von weit oben: die Erde ist nur eine blaue Kugel, die näher kommt
klein sind die anderen - so weit oben bist du - und du fliegst
alle beobachten dich

Wir halten den Atem an, alle zusammen
und im Moment des Aufschlags:
wir werden gemeinsam ersticken bis auf
dich der du zu fliegen gewagt